Neue Strategien gegen antibiotika-resistente Krankheitserreger -Wissenschaftler entdecken Heilpflanzen, die Bakterien entwaffnen können

Fabien Schultz während der Befragungen von traditionellen Heilern in Uganda (Credits: Inken Dworak-Schultz)
Abbildung der in Uganda wachsenden Pflanze Sesamum calycinum subsp. angustifolium, lokal von den traditionellen Heilern und Heilerinnen „Lutungotungo“ genannt (Credits: Useful Tropical Plants Database, 2020)
Doktorant Fabien Schultz im Labor der HS NB

Weltweit hat ein schleichendes Vergessen eingesetzt. Es ist ein Vergessen über die Heilmittel aus der Natur. Im Zuge dessen werden Pflanzen, Pilze und Insekten, die über Jahrtausende erfolgreich als Medizin genutzt wurden als Ammenmärchen und Zauberei abgetan oder das Wissen ging innerhalb weniger Generationen schlichtweg verloren. Dabei haben viele dieser alten Heilmittel tatsächlich eine biologische Funktion – und könnten in der modernen Medizin eine wichtige Rolle spielen.

Nachwuchswissenschaftler Fabien Schultz und Professor Leif-Alexander Garbe von der Hochschule Neubrandenburg und dem Zentrum für Ernährung und Lebensmitteltechnologie (ZELT gGmbH) erforschen seit einiger Zeit die pharmakologische Wirksamkeit alter und vergessener Pflanzen, Pilze und Insekten, die von unterschiedlichen indigenen Völkern medizinisch genutzt wurden und teilweise noch immer verwendet werden. Ihre Arbeit umfasst auch die Befragung von traditionellen Heilerinnen und Heilern in Ostafrika zu ihren seit Jahrhunderten genutzten Heilmitteln. Oft ist es eine erstmalige Dokumentation dieses Wissens. Darauf folgt das Einsammeln dieser natürlichen Spezies im tropischen Regenwald, die Evaluierung dieser traditionellen Anwendung im Labor durch pharmakologische Untersuchungen sowie die Suche nach neuen Medikamenten für die moderne Medizin. Internationale Vereinbarungen wie das NAGOYA Protokoll bilden den rechtlichen Rahmen der Kooperation.

Doch auch lokale Heilkräuter aus dem Neubrandenburger Umland werden von den Wissenschaftlern auf ihre Eignung als Medikamente in der heutigen Zeit untersucht. Viele dieser lokalen Pflanzen werden in alten Kräuterbüchern aus dem Mittelalter zwar erwähnt, ihre medizinische Anwendung ist mittlerweile jedoch nahezu völlig vergessen.  

Die Arbeitsgruppe entdeckte unter anderem 16 Pflanzenarten, die in Uganda von Heilern und Heilerinnen benutzt werden, um Vereiterungen (Abszesse), Entzündungen, Hautinfektionen und unterschiedliche Infektionskrankheiten zu behandeln. Eine Studie hierzu wurde bereits Anfang des Jahres im Journal of Ethnopharmacology publiziert (https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S0378874119332313?via%3Dihub). Die Pflanzen wurden während der Feldforschung im Dschungel eingesammelt, zerkleinert und getrocknet. Danach wurden die Proben in Neubrandenburg extrahiert und auf ihre tatsächliche antiinfektive Wirkung gegenüber lebensgefährlichen Bakterienstämmen hin untersucht. 

„Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) gibt an, dass Antibiotikaresistenzen eine der größten Gefahren für die globale Gesundheit, Lebensmittelsicherheit und Entwicklung heutzutage darstellen. Es kann jeden treffen, unabhängig von Land und Alter“, sagt Fabien Schultz. „Schon heute sterben jährlich 700.000 Menschen aufgrund von Bakterien, die gegen Medikamente resistent geworden sind. Man nimmt an, dass bis 2050 mehr als 10 Millionen Tote pro Jahr auf antibiotika-resistente Keime zurückzuführen sein werden. Das sind mehr tote Menschen als momentan an Krebs weltweit sterben. Und es gibt leider nach wie vor keine neuen, effektiven Medikamente. Dabei könnten wir der Lösung näher sein als wir denken, nämlich indem wir uns dem fast verloren gegangenen Wissen der Menschheit abermals zuwenden und die Chemie der Natur bei der Suche nach neuen Medikamenten in den Vordergrund des Forschungsinteresses rücken.“

Tatsächlich wurden neue Arten von Antibiotika zuletzt in den 50er bis 80er Jahren entdeckt und auf den Pharma-Markt gebracht. „Schon Paracelsus, der Vater der Toxikologie, merkte sinngemäß vor langer Zeit an, dass uns alles durch die Natur zur Verfügung gestellt wurde, was der Mensch für die Gesundheit und Heilung benötigt; die Herausforderung der Wissenschaft es jedoch sei, diese natürlichen Heilmittel überhaupt zu finden“, sagt Professor Garbe.

Im Rahmen eines durch ein Fulbright-Stipendium geförderten Laboraufenthaltes an der amerikanischen Emory University im Labor von Professor Cassandra Quave wurden von Fabien Schultz in Atlanta weiterführende Untersuchungen durchgeführt. Professor Quave ist eine weltweit führende Expertin auf dem Gebiet der pflanzlichen Wirkstoffe. Das Ergebnis dieser Kollaboration wurde vor Kurzem von Nature Scientific Reports veröffentlicht (https://www.nature.com/articles/s41598-020-67572-8).

„Diese Studie zeigte allerhand interessante Ergebnisse und Entdeckungen, die für eine zukünftige Medikamentenentwicklung von großem Wert sein könnten“, sagt Fabien Schultz. „Das Problem der Resistenzbildung bei Krankheitserregern ist nämlich nicht uniform auf alle Arten von Bakterien verteilt. Sechs Bakterienspezies können hier aufgrund ihres Potenzials zur Mehrfachresistenzbildung gegenüber Arzneimitteln und ihrer Bösartigkeit als für den Menschen besonders gefährlich eingestuft werden. Sie umfassen Enterococcus faecium, Methicillin-resistenter Staphylococcus aureus (MRSA), Klebsiella pneumoniae, Acinetobacter baumannii, Pseudomonas aeruginosa und Enterobacter-Arten. Diese Erreger sind besonders bei Kindern sowie immungeschwächten und schwerkranken Menschen häufiger Verursacher für tödliche oder lebensbedrohliche Verläufe von Infektionen.“ Die Forscher arbeiteten daher im Labor ausschließlich mit multiresistenten Bakterien, die in Krankenhäusern schwerstkranken Menschen entnommen wurden und gegen die nahezu alle marktüblichen Antibiotika nicht mehr wirksam waren.

„Wir haben die 16 Heilpflanzenarten gezielt ausgewählt. Einerseits verwenden traditionelle Heiler in Ostafrika sie seit Jahrhunderten. Andererseits wurde der Großteil dieser Pflanzen bisher noch gar nicht in einem Labor erforscht oder nur in sehr geringem Maße. Ziel der Studie war es daher ihre lokal etablierte Anwendung im Labor zu simulieren und durch zielgerichtete Screeningverfahren neuartige Substanzen und Wirkmechanismen zur Behandlung von Infektionen für die Entwicklung westlicher Medikamente zu finden“, sagt Professor Garbe.

So konnte bei Extrakten von 12 dieser 16 Pflanzenarten eine Hemmung des Wachstumes von mindestens einem der sechs Bakterienstämme nachgewiesen werden. Die vielversprechendsten Proben waren Extrakte der Baumrinden von Zanthoxylum chalybeum und Harungana madagascariensis, deren Wirkung gegenüber E. Faeciumund MRSA nahezu im Bereich von kommerziell erhältlichen Antibiotika liegen. „Bei dem Begriff Extrakt handelt es sich hierbei um ein Gemisch von hunderten, vielleicht sogar tausenden unterschiedlichen Substanzen. Es ist keine reine Substanz wie bei handelsüblichen Antibiotika. Die von uns nachgewiesene Wirkung ist daher wirklich beachtlich und die Aufreinigung, Isolation und Identifikation der Wirkstoffe wird unsere nächste Aufgabe sein“, sagt Nachwuchswissenschaftler Fabien Schultz.

Ein weiteres Kernstück der in Scientific Reports erschienenen Publikation ist die Suche neuen Strategien zur Bekämpfung der antibiotika-resistenten Bakterien. „Antibiotika sind wahrscheinlich nicht die einzigen effektiven Waffen gegen bakterielle Krankheitserreger“, führt Fabien Schultz aus. „Eine weitere therapeutische Strategie könnte es sein die Bösartigkeit beziehungsweise die Virulenz der Bakterien ins Visier zu nehmen, nicht jedoch das Bakterium als solches. Der Verlauf der Infektion wird nämlich durch das sogenannte „Quorum Sensing“ kontrolliert. Quorum Sensing befähigt das einzelne Bakterium zur chemischen Kommunikation mit den Bakterien in der Umgebung. Wenn beispielsweise eine bestimmte kritische Anzahl erreicht ist, beginnen sie sich abzustimmen, um gefährliche Giftstoffe auszuscheiden, Resistenzgene miteinander auszutauschen und Schutzmechanismen gegenüber Antibiotika zu bilden. Bakterizide Antibiotika töten Bakterien und ihre Anwendung führt zu einem hohen evolutionären Druck, der Resistenzbildungen auslöst. Wenn wir jedoch Wirkstoffe finden, die die Fähigkeit der Bakterien untereinander zu kommunizieren und zusammenzuarbeiten unterbrechen, anstatt sie zu töten, dann könnten wir die Resistenzbildung umgehen. Das Bakterium wäre sozusagen entwaffnet und ‚abgelenkt‘, während zeitgleich das menschliche Immunsystem das Bakterium unschädlich macht und entsorgt. Es könnte keine gefährlichen Toxine mehr absondern und wäre sozusagen ein ‚zahnloser Tiger‘.“

In der Theorie wollten die Wissenschaftler demnach untersuchen, ob Pflanzen, die keine antibiotische Wirksamkeit zeigten, ihre Wirksamkeit gegen Infektionen vielleicht durch die Hemmung des Quorum Sensings erhalten, nämlich der Entwaffnung des Bakteriums anstelle der Tötung des Bakteriums.

Quorum Sensing bei MRSA wird durch die Expression von vier verschiedenen Genen des sogenannten agr-Systems reguliert. Auch hier zeigten zwei Pflanzenextrakte ein besonders hohes Potenzial für die zukünftige Medikamentenentwicklung: ein Wurzelextrakt von Solanum aculeastrum und ein Extrakt der Blätter von Sesamum calycinum subsp. angustifolium. Beide Extrakte zeigten herausragende Hemmwirkungen auf die Expression aller vier agr-Gene und verhinderten somit Quorum Sensing. Darüber hinaus wurde ebenfalls der Einfluss auf die Giftstoffbildung bei MRSA untersucht, welche direkt durch Quorum Sensing reguliert wird. Auch hier konnte eine deutliche Verminderung der sogenannten Delta-Toxin-Bildung durch beide Extrakte im Reagenzglas erzielt werden. Keine der 16 Pflanzen zeigte eine schädigende Wirkung auf menschliche Hautzellen (Keratinozyten), weshalb eine gute Verträglichkeit angenommen wird. Weitere toxikologische Untersuchungen müssen jedoch noch folgen und von klinischen Tests sind die Forscher noch ein gutes Stück entfernt.

 „Im Zuge der SARS-CoV-2-Pandemie werden vermehrt Antibiotika verschrieben. Damit sollen bei COVID-19-Erkrankung durch die Schwächung verursachte Sekundärinfektionen behandelt werden. Das Auftreten von Antibiotikaresistenzen könnte demnach bei steigenden Infektionszahlen verschlimmert werden bis zu dem Punkt, dass keine der vorhandenen Antibiotika mehr helfen. Substanzen, welche die Kommunikation der Bakterien untereinander verhindern, könnten eine Lösung für das globale Problem der Antibiotikaresistenzen sein.“, sagt Professor Garbe. „Heilpflanzenextrakte oder daraus isolierte Wirkstoffe könnten das Infektionsrisiko bei OPs im Krankenhaus immens senken und zuvor nicht mehr wirksame Antibiotika könnten bei kombinierter Anwendung wieder wirksam werden.“. Obwohl die Wissenschaftler weder an einer großen medizinischen Fakultät und ohne Unterstützung eines Pharmakonzerns arbeiten, haben sie es durch gezielte internationale Wissenschaftskooperationen und die Neu- und Weiterentwicklung von Testsystemen geschafft State-of-the-Art-Forschung zu betreiben und wegweisende Ergebnisse auf dem Gebiet zu liefern, auf denen in Zukunft aufgebaut werden kann.

Das Wissen der ugandischen Heiler sei erstaunlich präzise, berichten die Forscher. „Wir konnten auch in unseren anderen Studien vielfach eine pharmakologische Wirksamkeit im Labor nachweisen, etwa bei Anwendung als Schmerzmittel und Fiebersenker oder auch als Antimalariamittel.“

Fabien Schultz und Professor Garbe haben einiges vor.

Nicht nur Menschen nutzen die Heilmittel der Natur. Die Forscher vermuten, dass auch wilde Schimpansen und Berggorillas Selbstmedikation betreiben. Dazu unternahmen die Wissenschaftler im letzten Jahr eine vom renommierten „The Explorers Club“ unterstützte Expedition mit internationalen Experten aus verschiedenen Forschungsgebieten in drei ostafrikanische Regenwälder. Insgesamt 180 Proben von 39 Insekten-, Pilz- und Pflanzenarten von dieser Forschungsreise werden jetzt im Labor untersucht. „Wir wollen die bewusste Anwendung von Heilmitteln bei unseren nächsten Verwandten beweisen,“, erklärt Fabien Schultz, „damit wir Menschen von den anderen Menschenaffen bei der Entwicklung neuer Medikamente lernen können.“

 

Artikel im Nordkurier vom 11.02.2021

Publikation im Wissenschaftsjournal Plants vom 12.02.2021

Weitere Links zu Publikationen und Beiträgen von Fabien Schultz und seinem Team

Schultz, F.; Anywar, G.; Tang, H.; Chassange, F.; Lyles, J.T.; Garbe, L.-A.; Quave, C.L.: Targeting ESKAPE pathogens with anti-infective medicinal plants from the Greater Mpigi region in Uganda. Nature Scientific Reports, volume 10, Article number: 11935, 2020 https://www.nature.com/articles/s41598-020-67572-8

Heilpflanzen: Alternative zu Antibiotika? (English: Medicinal plants: An alternative to antibiotics?) TV report, Nordmagazin. NDR - Norddeutscher Rundfunk, 24th September 2020:
https://www.ardmediathek.de/ndr/video/nordmagazin/heilpflanzen-alternative-zu-antibiotika/ndr-mecklenburg-vorpommern/Y3JpZDovL25kci5kZS85Y2RiZjBhYS0zZjQ0LTRmZGEtYTNlYy02Mzg3OWRkMTZmNTA/

Schultz, F.; Anywar, G.; Quave, C.L.; Garbe, L.-A.: A bibliographic assessment using the Degrees of Publication method: Medicinal plants from the rural Greater Mpigi region (Uganda). Evidence-Based Complementary and Alternative Medicine, 6661565, 2021. https://doi.org/10.1155/2021/6661565

Schultz, F.; Anywar, G.; Wack, B.; Quave, C.L.; Garbe, L.-A.: Ethnobotanical study of selected medicinal plants traditionally used in the rural Greater Mpigi region of Uganda. Journal of Ethnopharmacology, Volume 256, 28 June 2020.https://doi.org/10.1016/j.jep.2020.112742