Kenia - Praktikum im Nadirkonyen Catholic Centre

Aimee Stolberg, Bachelor Soziale Arbeit

Praktikum im Nadirkonyen Catholic Centre – Street and Exploited Children Programme

Im Ausland arbeiten. In anderen Kulturen, unterschiedlichen Gesellschaften leben. Meine Existenz und das Leben, so wie ich es kannte, einmal komplett auf den Kopf stellen. Mich von den Leinen dieser Gesellschaft, von ungeschriebenen Regeln und
Zwängen, losreißen. Einfach alles anders machen und mich vom Altbekannten lösen.
Diese Gedanken verirrten sich schon seit jeher in meinem Kopf. Doch mit diesen Gedanken wuchsen auch Zweifel und Ängste heran. Bin ich dem eigentlich gewachsen? Möchte ich wirklich mit allem Brechen und einen Weg einschlagen, den noch kein
Bekannter vor mir gewagt hat? Kann ich überhaupt so viel Mut fassen? Was ist wenn es schiefgeht?
Nach einer Anbahnungsreise für eine Schulpartnerschaft in Kenia im Jahr 2022 war ich fasziniert von diesem Land, dieser Kultur und seinen Menschen. Mir war schnell klar das ich in dieses ferne Land zurückkehren, mehr Zeit vor Ort und mit den Menschen verbringen möchte.
Die ersten Semester meines Bachelorstudiums Soziale Arbeit vergingen und da sah ich sie; meine Gelegenheit dieses Land tiefer zu erkunden und kennenzulernen. In Vorbereitung meines Langzeitpraktikums tauschte ich mich mit der Prüfungskoordination, dem International Office und Bekannten aus Kenia aus. Und dann stand es fest, ich würde nach Lodwar, Kenia fliegen und mein Praktikum im Nadirkonyen Catholic Centre – Street and Exploited Children Programme absolvieren. Ich konnte es kaum glauben und war überglücklich, denn für mich war es nicht einfach irgendein Praktikum, das ich für das Studium absolvieren musste, um alle ETCS Punkte zu bekommen. Es war die Chance, um einen Einblick in das Leben außerhalb zu bekommen. Ein Einblick wie es ist, in einem fernen Land zu arbeiten und zu leben. Zu sehen, wie sich mein späteres Arbeitsfeld in anderen Staaten gestaltet und wie Lehre an ausländischen Universitäten funktioniert. Ich ergriff diese Möglichkeit am Schopf und machte mich an die Organisation. Nach dem dritten Semester und einer stressigen Prüfungsphase war es dann langsam soweit. Zwei Wochen verbrachte ich noch zuhause in der Geborgenheit meiner Familie. Die Angst und
Spannung steigend. Wie werde ich den Flug überstehen? Was erwartet mich? Wie wird die Anfangszeit? Bin ich dem wirklich gewachsen? Diese Gedanken fanden ihren Höhepunkt am Check-In Schalter im Flughafen BER und verfolgten mich während des Fluges, bei dem das aufkommende Heimweh nicht weiterhalf.
Und dann? Dann kam die Aufregung und Anspannung. Das Flugzeug befand sich im Landeanflug und zack, da war ich: Jomo Kenyatta International Airport in Nairobi, mitten in der Nacht. Nach Einreise und Taxifahrt zu meinem Hotel war es dann auch schon morgens. Die Straßen der kenianischen Hauptstadt erwachten zum Leben und ich versuchte zu schlafen, irgendwie runterzukommen von der Anspannung und den ersten Eindrücken. Nach ein paar Tagen in dieser Metropole startete der nächste Flieger, um mich in den heißen Nordwesten Kenias zu bringen, wo ich in der Stadt Lodwar mein Praktikum antreten würde.
Am 26.02.2024 ging es dann nach langer Planung endlich los. Ich hatte meinen ersten Praktikumstag im Nadirkonyen Catholic Centre – Street and Exploited Children Programme. Man kann sich diese Praxisstelle wie ein Kinderheim vorstellen das Kinder aufnimmt, die auf der Straße leben oder ausgebeutet werden. Diese Ausbeutung kann zum Beispiel durch Arbeit entstehen, die von Kindern vollbracht wird oder in der sexuellen Ausbeutung liegen. Vor allem Mädchen werden aus dem letzten Grund vor Kinderehen gerettet und ins Centre gebracht. Hier lernen die Kinder für ein paar Monate lesen, schreiben und rechnen bis sie auf eine normale Schule kommen. Finanziert wird dies durch das Centre, denn in Kenia besteht keine Schulpflicht
und wer zur Schule gehen möchte, muss zahlen. Die Kinder werden unterstützt bis sie eine Berufsausbildung oder ein Studium absolviert haben.
An meinem ersten Tag war ich sehr gespannt auf die gesamte Umgebung und die neuen Eindrücke. Ich lernte alle kennen und machte mich mit den Abläufen im Centre vertraut. Alle waren sehr aufgeregt eine weiße junge Frau um sich zu haben und stellten viele Fragen. Wo komme ich her? Was mache ich hier? Wie läuft das Leben in Deutschland ab? Um nur ein paar
der unzähligen Fragen zu nennen. Nach zwei bis drei Wochen waren alle Abläufe und Aufgaben für mich in den Alltag übergangen, sodass ich mich gut zurechtfinden konnte. Ich verbrachte viel Zeit mit den Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen, kam mit ihnen ins Gespräch. Dadurch lernte ich sie besser kennen. Ich bekam einen anderen Zugang zu ihnen und ihren Lebenswirklichkeiten, die sich wahrscheinlich die meisten Menschen in Deutschland gar nicht vorstellen können. Ich spielte mit diesen Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen Volleyball und Fußball. Zeigte ihnen Kartenspiele wie UNO oder brachte ihnen bei wie man Memory spielt, wovon sie total begeistert waren. Im Gegenzug zeigten sie mir ihre Spiele und
Arten, sich die Zeit zu vertreiben und ließen mich daran teilhaben. Es war ein sehr schöner Austausch, der Umgang mit ihnen hat mir viel gegeben und war sehr herzlich.
Ich hatte Glück zweimal während meines Praktikums den Nadirkonyen Day mitzuerleben. Dieser Tag findet immer in den letzten paar Tagen vor dem Schulstart statt. Es wird ein besonderes Essen zusammen vorbereitet und gegessen und dann wird im Centre eine Musikbox aufgestellt, sodass alle zusammen tanzen und singen können. Die Leichtigkeit und Freude der Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen in solchen Momenten zu sehen und zu spüren, war unbezahlbar.
Obwohl ich so herzlich empfangen wurde, gab es auch einige Schwierigkeiten. So erregte ich nicht nur in meiner Praxisstelle sondern auch außerhalb viel Aufmerksamkeit aufgrund meiner anderen Hautfarbe. Wenn ich die anderen Sozialarbeiter zur Streetwork begleitet habe, wurden mir häufig Dinge hinterhergerufen, uns sind andere Leute hinterhergelaufen, wir
wurden von Menschen umzingelt wenn wir stehengeblieben sind und viele wollten mich anfassen. Das war teilweise eine ganz schöne Überforderung, aber ich habe mich niemals unsicher gefühlt, da meine Kolleginnen und Kollegen immer auf mich aufgepasst haben.
Hinzu kommt die Sprachbarriere. Obwohl Englisch die zweite Amtssprache in Kenia ist, sprechen vor allem Kinder und Menschen aus ärmlicheren Verhältnissen kaum Englisch, da die Sprache nur im Schulunterricht gelehrt wird. Dadurch war die Kommunikation zu den Kindern im Centre und den Kindern auf der Straße beim Streetwork erschwert. Auch mit den Familien
der Kinder und Jugendlichen konnte ich mich kaum verständigen, da diese größtenteils keine Schulbildung erfahren haben. Ich konnte mir aber im Laufe meines Aufenthalts mit Hilfe der Kinder und Jugendlichen, den Mitarbeitern des Centres und meinen Bekannten einige Wörter und Redewendungen aneignen, sodass ich die Menschen etwas besser verstehen konnte.
Durch den Austausch und die gemeinsame Zeit, die ich mit den Mitarbeitern meiner Praxisstelle verbracht habe, sind auch neue Bekanntschaften und Freundschaften entstanden die ich bis heute weiterhin pflege. So kam es dazu, das ich auch mal am Wochenende mit Kollegen unterwegs war, die mir die Umgebung näher gezeigt haben. Auch hierbei habe ich einen weiteren Einblick erhalten, wie das Leben für Menschen in anderen Ländern oftmals aussieht.
Neben meiner regulären Praktikumszeit habe ich auch die zeitgleiche Praxisbegleitung am Turkana University College absolviert. Ein Professor des dortigen Fachbereichs für u.a. Soziale Arbeit war für mich zuständig und hat mich während des Praktikums begleitet. Bei unseren Treffen ging es nicht nur um Reflexion und Supervision sondern auch um den Austausch über unterschiedliche Lehrmethoden und -inhalte an unseren Bildungseinrichtungen. So habe ich zum Beispiel erfahren, das der Bachelor-Studiengang Soziale Arbeit in Kenia in vier Jahren absolviert wird und nicht wie bei uns an der Hochschule in drei Jahren. Außerdem muss man dort vorweg für vier Jahre ein Diploma machen. Durch weitere Gespräche mit meinen Kollegen fand ich heraus, das der Abschluss des Studienganges nicht durch eine Bachelorarbeit geschieht sondern durch einen ausführlichen Praxisbericht. Für mich war es interessant Unterschiede auszumachen, sowohl zwischen den Universitäten als auch zwischen den Schulen, die ich während meiner Praxiszeit besucht habe und denen, die ich aus Deutschland und somit aus meiner eigenen Schulzeit kenne. Ich habe mich oft in mein altes Ich aus der Schulzeit zurückversetzt und musste daran denken, wie es wäre in einer kenianischen Schule zu leben und zu lernen, da dort die meisten Schulen auch Boarding Schools sind, also Internate.
Eine weitere aufregende Erfahrung während meines Praktikums war die Regenzeit im April/Mai. Diese war in diesem Jahr sehr stark und länger als üblich, wie mir gesagt wurde. Für mich war der Regen eine willkommene Abkühlung, wobei er für viele verhängnisvoll sein kann. Aufgrund der starken und vielen Regenfälle wurden die Schulen drei Wochen verspätet geöffnet, da viele großen Schaden hatten. In Lodwar und der Umgebung gibt es sehr viele Lehmhäuser, wovon viele ebenfalls durch den Regen geschädigt wurden. Familien haben ihre Häuser verloren. Dies war sehr bedrückend zu beobachten. Noch Wochen nach dem letzten Regenschauer waren überall riesige Wasser- und Schlammpfützen was die Fortbewegung, vor allem für Autos und Motorräder, oftmals erschwerte.
Ich habe das Gefühl, das man bei einem Aufenthalt in einem anderen Land dazu neigt öfter über die eigenen Lebensbedingungen und das eigene Aufwachsen nachzudenken. Jedenfalls veranlasste es mich weiterführend dazu meine Lebensumstände zu schätzen und froh über all die Dinge zu sein, die ich in meinem Leben habe. Diesbezüglich meine ich nicht nur materielle Dinge, aber vor allem meine Familie und die Freundschaften in meinem Leben. 
Fest steht das sich mein Wunsch, Kenia und seine Menschen näher und tiefer kennenzulernen, erfüllt hat. Ich habe viele neue Leute kennengelernt zu denen ich noch immer Kontakt habe. Es war sehr aufregend in so einem fernen Land mehrere Monate zu leben und zu arbeiten. Meine Neugier andere Länder und Kulturen zu sehen und kennenzulernen ist dadurch gewachsen und ich könnte mir vorstellen nach meinem Studium für Projekte oder ähnliches wieder ins Ausland zu gehen. Ich kann jedem sagen, der überlegt auch mal ein Semester oder ein Praktikum in einem anderen Land zu machen, diesen Schritt zu wagen. Es sind Erfahrungen und Erlebnisse die mir niemand mehr nehmen kann und ich bin sehr froh diesen Schritt gemacht zu haben.