Staatlicher Naturschutz zwischen Anspruch und Wirklichkeit

Die Naturschutzorganisation war den wachsenden Naturschutzproblemen nicht gewachsen. Die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit wurde immer größer, der allgemeine Personalmangel in der Naturschutzverwaltung setzte sich fort.

Einen Eindruck zur Einschätzung der Leistungsfähigkeit der „Naturschutzorgane“ gibt das nachfolgend wiedergegebene Dokument. Es ist Ergebnis einer Beratung mit den Leitern der Zweigstellen und der Abteilung Dölzig des ILN am 24. und 25. Juni 1986 in Müritzhof.

  • „Die örtlichen Volksvertretungen sowohl auf der Bezirks- wie auf der Kreisebene befassen sich sehr selten (durchschnittlich alle 5 Jahre einmal) mit Fragen des Naturschutzes.
  • Für das zuständige Ratsmitglied gelten ähnliche Intervalle, es sei denn, dass Bevölkerungseingaben (die gewöhnlich nur lokale Sonderprobleme betreffen) oder Vorschläge des ILN zur Beschäftigung mit dem Sachgebiet Anlass geben. Zentrale bzw. bezirkliche Vorgaben, Anleitung und eine Berichterstattungspflicht existieren im Gegensatz zu nahezu allen anderen Arbeitsbereichen der Fachorgane nicht oder nur in Ansätzen. Infolge persönlichen Interesses kann das Engagement des Ratsmitgliedes stellenweise jedoch auch überdurchschnittlich hoch sein.
  • Das Sachgebiet Naturschutz wird auf der Bezirksebene von einem hauptamtlichen Mitarbeiter bearbeitet, der die angeführten Qualifikationsmerkmale nur in wenigen Fällen verkörpert. Kennzeichnend ist außerdem öfter die Übertragung von periodischen Sonderaufgaben an den Naturschutzreferenten, der als einer der leicht entbehrlichen Mitarbeiter gilt, sowie der Wechsel in der Besetzung (besonders bei initiativreichen und gut eingearbeiteten Referenten). Im Wesentlichen ist die Arbeit beim Bezirk als eine ‚Einmann-Arbeit‘ zu charakterisieren.
  • Das Sachgebiet Naturschutz wird bzw. soll auf der Kreisebene vom Mitarbeiter für Jagd und Naturschutz wahrgenommen [werden]. Doppelfunktion und doppeltes Unterstellungsverhältnis (Vors. d. R. d. Kr., Abt. LN) stellen hohe Anforderungen an die Kader, die in der Praxis dazu führen, dass Aufgaben der Jagd 80-90 % der Arbeitszeit ausfüllen (bes. waldreiche Kreise; eigene Aussagen der Referenten).
  • Im RKV [Rahmenkollektivvertrag] der staatlichen Organe gibt es nur einen ‚Sachgebietsleiter Jagd‘. Naturschutz als Sachgebiet taucht nirgends auf. Die Einstufung in der Gehaltsskala ist relativ niedrig. Dies, in Verbindung mit dem schwerer fasslichen, weil höhere Qualifikation verlangenden Aufgabengebiet Naturschutz, liefert die Begründung (den Vorwand) zu starker Vernachlässigung der Naturschutzaufgaben. Die Zahl der Kreise mit ‚gut‘ funktionierendem staatlichen Naturschutz wird auf 20 % geschätzt.
  • Das Funktionieren des staatlichen Naturschutzes auf Kreisebene ist auf die Fälle mit initiativreichen ehrenamtlichen Kräften (KNB, NSH) [Kreisnaturschutzbeauftragte, Naturschutzhelfer] und/oder persönlichem Interesse des Sachgebietsverantwortlichen beschränkt. Stellenweise haben Mitarbeiter der Abt. UWE, trotz hoher Belastung mit Arbeiten dieser Fachabteilung, Naturschutzaufgaben besser oder überhaupt erledigt (Beispiele liegen vor).
  • In den Fällen, wo eine fehlende oder schlechte Besetzung der KNB-Funktion mit ungünstiger Konstellation im R. d. Kr. zusammenfallen, kann jahrelang von einer staatlichen Naturschutzarbeit überhaupt nicht die Rede sein (ca. 20 % der Kreise). […]
  • Besonders negativ macht sich fehlende bzw. mangelhafte staatliche Naturschutzarbeit bei Standortgenehmigungs- bzw. -zustimmungsverfahren bemerkbar. Abgesehen vom Fehlen einheitlicher und verbindlicher Regelungen über die Einbeziehung der Naturschutzorgane in die Vorbereitung aller landschaftsverändernden Maßnahmen wird dem R. d. Kr. zugeleiteten Projektunterlagen im Namen des Naturschutzes bedenkenlos zugestimmt, wenn keine NSG oder ND betroffen sind. Die Forderungen z. B. der Artenschutzbestimmung bleiben bisher völlig außerhalb der Betrachtung! Damit wird unwiederbringlich wertvolle Substanz vernichtet oder geschädigt.
  • Die Durchsetzung von Prinzipien der Landschaftspflege und die Arbeit mit LSG können unter diesen Umständen keine Rolle spielen; von Ausnahmen abgesehen. Selbst bei einigen Räten der Bezirke, Abt. Forstwirtschaft/Naturschutz, werden LSG, selbst solche von zentraler Bedeutung, aus dem Zuständigkeitsbereich ausgeklammert (Bez. Rostock). Teilweise werden diese Belange von der Abteilung UWE wahrgenommen.
  • Die Anleitung der hauptamtlichen Mitarbeiter der R. d. B. (Naturschutzwarte) ist nicht ausreichend, so dass aus diesem Kreis nur sehr gefestigte, stark engagierte Personen die in sie gesetzten Erwartungen erfüllen.
  • Arbeitsstil und Kapazität der Staatsorgane auf dem Sektor Naturschutz sind nicht geeignet, über Aktivitäten des defensiven, hinhaltenden Naturschutzes alten Stils hinauszukommen (Unterschutzstellungen, Auflagen zur Milderung von Eingriffen). Sie lassen die Verwirklichung konstruktiver, perspektivisch ausgerichteter Vorhaben in Einheit von Nutzung und Schutz nicht zu. Damit kann eine Aufwertung des Ansehens des Naturschutzes nicht erreicht werden. […]
  • Die Situation bei den staatlichen Organen führt dazu, dass komplizierte Vorgänge der Naturschutzpraxis (großräumige Projekte Wasserwirtschaft, Melioration, Verkehr u. a.) den Regionalarbeitsgruppen des ILN zugeleitet werden, die aus Kapazitätsgründen gezwungen sind, ad hoc-Gutachten und -Stellungnahmen zu machen, die der Tragweite der Maßnahmen nicht gerecht werden. Ressortbestimmte Gesichtspunkte geben bei der Realisierung dann auch oft den Ausschlag vor optimierten volkswirtschaftlichen und gesamtgesellschaftlichen Belangen. Kontrollen und Auswertungen der Ergebnisse sind dem ILN aus Kapazitätsgründen selten möglich.“

(Quelle: ILN-Archiv im LUA Brandenburg, Ordner Schriftwechsel Bezirk Potsdam und Berlin, Beratungen RdB 1970-1989, ILN: Zur Wirksamkeit der staatlichen Organe auf dem Sektor Naturschutz als Teil der sozialistischen Landeskultur, Greifswald, den 25.8.86, unter Verwendung der Zuarbeiten von Dr. Hentschel, Dr. Hiekel und Dr. Reichhoff zusammengestellt von Dr. G. Klafs.)

Die Unterzeichner erarbeiteten einige Vorschläge zur Überwindung der Diskrepanz zwischen gesetzlichen Grundlagen und Naturschutzpraxis, die jedoch nur eine „bescheidene“ Reaktion auf die zuvor dokumentierte ausführliche Mängelliste darstellten und sich im Wesentlichen auf eine Personalverstärkung, bessere Qualifikation und höhere Löhne beschränkten. So sah die Lage gegen Ende der DDR im Naturschutz alles andere als rosig aus und ohne die aufopferungsvolle Arbeit der Ehrenamtlichen und Freiwilligen im Naturschutz hätte sich nichts bewegt.

Literatur zum Weiterlesen

Paucke, H. 1996: Ökologisches Erbe und ökologische Hinterlassenschaft. Forum Wissenschaft Studien 34. Marburg.

Paucke, H. 1994: Chancen für Umweltpolitik und Umweltforschung. Zur Situation in der ehemaligen DDR. Forum Wissenschaft Studien 30. Marburg.

Behrens, H. 2015: Naturschutzgeschichte Thüringens. [Lexikon der Naturschutzbeauftragten, Band 4].  Berlin.

Behrens, H. 2010: Naturschutzgeschichte und Naturschutzbeauftragte in Berlin und Brandenburg [Lexikon der Naturschutzbeauftragten. Band 3]. Friedland.

 

Phase 1982 bis 1990

Erinnerungen von Zeitzeugen

Prof. Dr. Michael Succow